Diagonale: History of Now

Für Cineasten und Fans des österreichischen Films hatte das Warten vergangene Woche endlich ein Ende: Die jährliche Diagonale – das Festival des österreichischen Films präsentierte die Neuproduktionen heimischer Filmemacher und verwandelte Graz wieder in die Hochburg der Filmschaffenden.

Alles, was in der Branche Rang und Namen hat, bevölkerte dieser Tage die Landeshauptstadt. Man traf sich aber nicht nur um die neuesten Werke zu genießen, sondern auch um sie zu diskutieren. Das Festival, das sich als Forum für Präsentation und Auseinandersetzung versteht, eröffnet außerdem die Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch. Aktuellen Tendenzen des künstlerischen Filmens konnte ebenso nachgespürt werden, wie sie im Rahmen diverser Publikumsgespräche und Diskussionsveranstaltungen mit Filmexperten die Projekte kritisch und differenziert zu hinterfragen. Zusätzlich neuen Wind verschafften der diesjährigen Diagonale seine Neo-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber.

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Zita Geier und Ursula Strauss bei der Eröffnung der Diagonale              (c) Raneburger

Zur Eröffnung wurde am Dienstag die Verfilmung des autobiographischen Romans “Maikäfer flieg” von Christine Nöstlinger gezeigt. Der Film von Mirjam Unger erfuhr bereits im Vorfeld große mediale Aufmerksamkeit, nichtzuletzt aufgrund der herausragenden Leistung der erst 10-jährigen Hauptdarstellerin Zita Geier. Ursula Strauss durfte sich für ihre Rolle als Christines Mutter über den Schaupielpreis der Diagonale freuen. Seit Freitag läuft der Film auch regulär in den österreichischen Kinos.

Ein weiteres Highlight war die Verfilmung des literarischen Briefwechsels zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann Herzzeit, die unter dem Titel “Die Geträumten” das Rennen um den begehrten, mit 21.000 Euro dotierten Großen Diagonale Spielfilmpreis für sich entscheiden konnte.

Am Rande wurde auch eine besonders ehrliche Low-Budget-Produktion gezeigt:  Nadiv Molcho durfte mit “History of Now” am Freitag sein Erstlingswerk im Rahmen des Festivals vorstellen. Der Sohn des bekannten Körpersprachexperten, Star-Pantomimen und Wiener Universitätsprofessors Samy Molcho übernahm nicht nur Drehbuch und Regie, sondern überraschte mit einer Einfühlsamkeit, die ihresgleichen sucht. Er hat mit seiner Romanze eine authentische Liebesgeschichte auf die Leinwand gezaubert, in der sich nahezu jeder irgendwie wiederfindet.

Im Zentrum des Films stehen Eli und Maya, gespielt von Molcho Junior und Aya Beldi. Beide sind Mitte zwanzig, lernen einander kennen und verlieben sich. Sie sind voller Träume, streben nach Mehr und sind gleichzeitig romantisch-naiv. Vor allem Maya strahlt inspirierenden Hunger auf das Leben, flatterhafte kindliche Neugier und gleichzeitig laszive Herausforderung aus, Eli wird als unschuldig-verträumter Romantiker dargestellt, der mit einer Mischung aus Faszination und Neid beobachtet wie unbeschwert Maya durchs Leben geht. Er hadert mit sich, weil er nach Struktur strebt und sich zugleich von der Unbestimmtheit Mayas angezogen fühlt. Molcho zeichnet seine Charaktere als liebevolle, aber unterschiedliche, er lässt sie sich an ihren Differenzen erfreuen und reiben, anfangs vor allem lustige Momente erleben. Der Humor Elis erinnert tatsächlich ein wenig an den seines Vorbilds, den (Stadt-) Neurotiker Woody Allen. Die Ambivalenz zwischen Spaß haben und Erwachsenwerden wird durch ebendiesen charmanten Humor überbrückt, bis dieser von der Ernsthaftigkeit erstickt wird, die Maya (noch) nicht erträgt. Vor allem dieses anfängliche Kennenlernen und Verlieben bietet derart authentische Situationen, dass die Identifikation mit den Figuren leicht fällt. Der Kokon, den sich die beiden bauen und aus dem sie die Realität abseits ihrer Zweisamkeit ausschließen, ist nur zu gut als die “rosa Brille” bekannt. Der Film ikonisiert indem er die Blase zentral setzt und sie so großartig zeigt wie sie allein, ohne ihren Kontext, ist. Eine Darstellung des Alltäglichen sei sein Ziel mit dem Film gewesen, erklärt Nadiv Molcho im anschließenden Publikumsgespräch. Das gelang ihm gerade durch das bewusste Nicht-Inszenieren der prototypischen Blockbuster-Dramaturgie (äußere Konflikte wie Krebs, Schwangerschaft, etc.) und dadurch, eine unverfälschte Nähe zwischen den beiden zu zeigen, die den Seher seine distanzierte Haltung vergessen lässt.

Eli und Maya beginnen eine ernsthafte mehrjährige Beziehung, die im Urlaub in Marokko durch einen Heiratsantrag Elis gekrönt werden soll. Dort verbringen sie die Zeit ihres Lebens und schließen mit dem deutschen Paar Lea und Kai Freundschaft. Der Plan von der gemeinsamen Zukunft gerät jedoch ins Wanken, als sich Maya auf Kai einlässt – berauscht von Alkohol, Marihuana und der Fremde, fernab des heimatlichen Alltags. Fast scheint das Motto ‘laissez faire’ (aka man ist ja im Urlaub, noch jung und ungebunden) – als Entschuldigung durchzuklingen. Dass sie damit die Beziehung zu Eli zerstört, wird Maya erst im Nachhinein bewusst. Was beiden aber auch erst dadurch klar wird: Sie sind grundverschieden, trotz ihrer gemeinsamen Blase. “Shit happens” als moralische Essenz des Films vorzuschlagen, zeugt in diesem Fall nicht von fehlender philosophischer Tiefe, sondern viel mehr von bitterem Realismus, der auf die freigeistige jugendliche Illusion von der Liebe unweigerlich folgen muss und doch einen melancholischen Nachgeschmack hinterlässt.

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Mit einem Budget von nur rund 25.000 Euro und zwei Monaten Zeit für die gesamte Produktion standen Molcho und sein Team vor einer großen Herausforderung. Gerade diese Knappheit beschlossen sie, produktiv für die Intimität ihres Films zu nutzen. Der Charme der Drehorte Wien und Marrakesch wird daher meist durch die Linse einer tragbaren Kamera eingefangen, die Beleuchtung ist natürlich und deshalb atmosphärisch. Die Schauspieler sind vornehmlich befreundete Laien und Molchos Familie, die die Produktion ihres jüngsten Sprosses zudem finanziell und mit Schauplätzen in Wien, etwa dem Lokal von Haya Molcho am Naschmarkt, unterstützte. Was dadurch an Expertise fehlt, wird durch das besonders harmonische Spiel der Hauptdarsteller Nadiv Molcho und Aya Beldi ausgeglichen. Wenngleich an manchen Dingen ‘gespart’ werden musste, an den Kostümen und der Dekoration merkt man das nicht: Farbenpracht und Leichtigkeit vermitteln die bunten, wallenden Stoffbahnen, in die Protagonistinnen (von Kyra Sophie) gehüllt wurden. Natürliche Sinnlichkeit und gierige Lebenslust lässt sie strahlen, wenn sie sich zum Rauschen des Meeres oder den vielfältigen Klängen der Filmmusik bewegen. Die Wohnung in Wien ist liebevoll eingerichtet und das Domizil in Marokko, an sich schon mit sinnlicher Atmosphären-Romantik aufgeladen, wird durch flackernden Kerzenschein, die Vorstellung der orientalischen Düfte und der verspielten Gestaltung auch ästhetisch zum zauberhaften Refugium.

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Nadiv Molcho mit seinem Vater Samy 2013 (c) Thomas Lehmann

Obwohl der Film ganz ohne äußeren Konflikt und konventionelles Drama auskommt, strotzt er also vor inneren Konflikten, nämlich solchen, die sich auf der Gefühlsebene der Protagonisten abspielen und das ganz persönliche Drama darstellen, das sich einerseits individuell gestaltet und doch in abgewandelter Form jedem widerfährt. Er schafft es, etwas objektiv Unaufregendes – einen “no big deal” – zum “biggest deal” zu machen.

Nadiv Molcho betont explizit, mit dem Film kein politisches Statement transportieren zu wollen. Er möchte sein Publikum viel mehr 93 Minuten lang einladen, den Film um seiner visuellen Ästhetik willen zu genießen, sich von ihm und seiner emotionalen Tiefe berauschen zu lassen. Die Zuseher berührt der Film mit einer Ehrlichkeit, Witz und nachvollziehbaren Gefühlen. Die retrospektive Erzählweise aus Elis Sicht (durch seine Stimme aus dem Off) lässt zunächst ins Jetzt eintauchen, das von der Vergangenheit überschattet wird. Was Eli und Maya jetzt sind, sind sie nicht ohne und nur durch ihre gemeinsame Vergangenheit. Das Wiedersehen nach Jahren der Trennung in Wien ist ein Moment und doch die gesamte Geschichte, die “History of Now”.